„Keine Kommunikation ohne Zeichen“ – „keine Kommunikation ohne Medien“: Darin besteht, so könnte man sagen, das zentrale Dogma jeder aufgeklärten, wissenschaftlichen oder technisch-pragmatischen Haltung zur Frage der Kommunikation. Von Anfang an jedoch wird der Kommunikations- und Mediendiskurs der Moderne von seinem Schatten begleitet, dem hartnäckigen Wunsch nach „unmittelbarer“, „echter“ oder „authentischer“ Kommunikation, nach Formen der Verständigung und des Zusammenseins, die nicht durch dazwischentretende Vermittlungsinstanzen: Zeichen, Sprache, Medien, entstellt oder „entfremdet“ wären.
Das Seminar nimmt Szenen aus der Kommunikationsgeschichte der Moderne in den Blick, in denen sich dieser Wunsch nach direkter Verbindung und unmittelbarem Zusammenschluss mit besonderer Vehemenz artikuliert hat: vom Zungenreden pietistischer Schwärmer über die Vereinigungsmythologien der politischen Romantik bis zu den Kommunikationsutopien von “Cyberspace” oder "Metaverse". Dabei ist es paradoxerweise gerade die Idee einer Überwindung des Medialen, die dafür sorgt, dass die Maschinen der Vermittlung nie stillstehen. Der Kampf gegen den Buchstaben bringt neue Buchstaben hervor, der Traum der Unmittelbarkeit gebiert neue Medien.
Termine, Themen und Lektüren:
[1] 07.11.2023 Intro: Befangenheit
Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Zweibändige Ausgabe in einem Band. Hg. von Helmut Sembdner. München: dtv, 2001, S. 338–345.
Filmausschnitte:
Videogramme einer Revolution (R: Harun Farocki, D. 1992)
Slavoj Žižek. Liebe dein Symptom wie dich selbst (R: Claudia Willke, Katharina Höcker, D 1998)
I. Erfahrung des Wirklichen
[2] 14.11. „Das Gefängnis der Sprache“
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (1807). In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 3. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986. (Auszug S. 82-92: „Die sinnliche Gewissheit“).
Film-Ausschnitt: »Jacques Lacan parle«. Conférence du 13 octobre 1972. Université catholique de Louvain (R.: Françoise Wolff, F 1972).
[3] 21.11. Leben, Bild und Tod: Die Fotografie
Bazin, André: Ontologie des photographischen Bildes (1945). In: André Bazin: Was ist Film? Hg. v.
Robert Fischer. Berlin: Alexander-Verlag, 2009, S. 33–40.
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie (1980). Frankfurt, M: Suhrkamp, 1989 (Auszüge S. 11-36, 52-65).
II. Trennung und Verbindung
[4] 28.11. Das lebendige Wort: Verwicklungen von Schrift und Rede
Paulus: Brief an die Korinther (2 Kor 3)
Rock, Johann Friedrich: Wohl und Weh, so der Geist der wahren Inspiration in denen Schwäbischen Landen und Reichs-Stätten, insonderheit durch Johann Friderich Rock, Sattlern, in Begleitung unterschidlicher inn-ermeldter Gehülffen Anno 1716, 1717 und 1718 ausposaunen lassen. s.l. 1719. (Auszüge)
Derrida, Jacques: Grammatologie (1967). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, Abschnitt „Der Signifikant und die Wahrheit“, S. 23-35.
[5] 05.12. Kritik der Trennungen
Rousseau, Jean-Jacques: Brief an Herrn d'Alembert über seinen Artikel 'Genf' im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere seinen Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten. In: Rousseau, Jean-Jacques: Schriften, Bd. I. Herausgegeben von Henning Ritter. Frankfurt a.M./ Berlin/ Wien: Ullstein, 1981, S. 333–474. (Auszüge)
Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels (1967). Hamburg: Edition Nautilus, 1978. (Auszug S. 5-16)
[6] 12.12. Theater der Unmittelbarkeit
Artaud, Antonin: Das Theater und die Grausamkeit (1933). In: Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. Das Théâtre de Séraphin. Frankfurt am Main: Fischer, 1989, S. 89–93.
Artaud, Antonin: Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest) (1932). In: a.a.O., S. 95–107.
[7] 19.12. Nieder mit den Vermittlungen!
Baudrillard, Jean: Requiem für die Medien (1972). In: Pias, Claus; Engell, Lorenz; Fahle, Oliver; Vogl, Joseph; Neitzel, Britta (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard: DVA, 2008, S. 279–299.
Filmausschnitte:
Themroc (R.: Claude Faraldo, F 1973)
Ultimo tango a Parigi (R.: Bernardo Bertolucci, I, F 1972)
III. Entfremdung und Authentizität
[8] 09.01. Das Paradigma der Entfremdung
Textauszüge:
Bachmann, Ingeborg (2010): Entfremdung (vor 1953). In: Ingeborg Bachmann: Werke I. Gedichte Hörspiele Libretti Übersetzungen. München, Zürich: Piper, S. 6.
Peter Handke: Die Stunde der wahren Empfindung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975.
Nicolas Born: Die erdabgewandte Seite der Geschichte. Roman (1976). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1979.
Filmausschnitte:
Michelangelo Antonioni: L’eclisse, Italien, Frankreich 1962, dt. Verleihtitel: Liebe 1962 (BRD), Sonnenfinsternis (DDR)
Ingmar Bergman: Tystnaden (dt.: Das Schweigen), Schweden 1963
Michelangelo Antonioni: Il deserto rosse, Italien 1964, dt. Die Rote Wüste
Michelangelo Antonioni: Zabriskie Point, USA 1970
Michael Haneke: Der siebente Kontinent , Österreich 1989
[9] 16.01. Die Tücken der Authentizität
Steyerl, Hito: Kunst oder Leben. Dokumentarische Jargons der Eigentlichkeit. In: Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld. Wien: Turia + Kant, 2008, S. 93-100.
Filmausschnitte: Models (A 1998, R: Ulrich Seidl)
[10] 23.01. Vom Nutzen der Künstlichkeit
Film-Screening:
Gangster Girls (R: Tina Leisch, A 2008, 79 min)