Die Leidenschaften verstehen, um sich von ihnen nicht beherrschen zu lassen, das ist ein klassisches Thema der Philosophie. Schon auf der Ebene der individuellen Lebensführung hat die Idee einer Zügelung oder Lenkung der Affekte eine politische Konnotation: Die Vernunft versteht sich als ein Instrument der Regierung, eine übergeordnete Instanz der Kontrolle und Steuerung, die die von ›unten‹ heraufdrängenden irrationalen Impulse in Zaum hält oder sogar in produktive Bahnen lenkt. In der Frühen Neuzeit wird diese politische Komponente  ganz offensichtlich: Mit dem Aufkommen neuer Kollektivsubjekte wie Masse, Klasse oder Nation lässt sich die Frage nach dem Wirken der Passionen und Affekte nicht mehr auf einzelne Subjekte begrenzen; zunehmend geraten nun auch Phänomene der kollektiven Erregung, der ›Stimmung‹ und Gefühlsansteckung in den Blick. Exemplarisch lässt sich diese politische Färbung des Diskurses über die Leidenschaften der Seele durch die Etymologie des Wortes "Emotion" verdeutlichen: Erst im 18. Jahrhundert nimmt es die heute gebräuchliche Bedeutung einer individuellen Gemütsbewegung an; davor bezeichnet "emotion" das kollektive Ereignis eines Aufstandes, einer Meuterei (frz. "emeute"), also "den Aufruhr nicht der Gefühle, sondern des Volkes". [1]
Der Mainstream des politischen Denkens war stets darauf bedacht, emotionale Regungen, soweit es ging, aus dem Bereich der Politik herauszuhalten. Positionen, die die Leidenschaften als politisch und die Politik als eine Frage der Leidenschaft begriffen, hatten daher kein leichtes Spiel; ihnen wurde nicht selten eine unverantwortliche Entfesselung der Mächte des Irrationalen vorgeworfen. [2]
Angesichts der populistischen Mobilisierung des Ressentiments und der medientechnischen Verstärkung kollektiver Gemütswallungen, wie wir sie aktuell erleben, erscheint es jedoch als unverzichtbar, sich nach Theorien umzusehen, die den Verstrickungen von Politik und Leidenschaft Rechnung tragen können. Lektüregrundlage des Seminars bildet eine lose Folge von Texten zur politischen Theorie der Affekte, von dem holländischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632-1677) bis zu den heutigen Affect Studies.  

[1] »Affekt (πα′ θος, passio, Leidenschaft)«, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Schwabe: Basel, 1971-2007, Band 1, Digitale Fassung, o.P.
[2] Der Vorwurf traf z.B. in 1930er Jahren das "Collège de Sociologie" um Georges Bataille und Roger Caillois; in den 1970er Jahren richtete er sich gegen die "Schizoanalyse" von Gilles Deleuze und Félix Guattari.

 

Termine und Texte:

 

(1) 4. April 2023 Überblick und Einstieg

  • Baltasar Gracián: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von D. Vincencio Juan de Lastanosa und aus dem Spanischen Original treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer (1647), Zürich: Diogenes, 1993. (Auszüge)

(2) 11. April 2023

  • Baruch de Spinoza: »Von der menschlichen Knechtschaft oder von den Kräften der Affekte«, in: Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt (1677), Hamburg: Meiner, 1976. (Auszug: Auszüge aus dem vierten Teil ("Von der menschlichen Knechtschaft oder den Kräften der Affekte"): Vorrede, Definitionen, sowie die Lehrsätze 5-9, 18-22, 32-35, 38-50.

(3) 25. April 2023

  • Baruch de Spinoza: »Zwanzigstes Kapitel. Es wird gezeigt, daß in einem freien Staat es jedem erlaubt ist zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt«, in: Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat. Tractatus theologico-politicus (1670), Hamburg: Felix Meiner, 2012, S. 306–317.
  • Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury: »A Letter Concerning Enthusiasm to My Lord *****« (1708), in: Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury: Characteristics of men, manners, opinions, times, hg. v. Lawrence Eliot Klein, Cambridge, UK, New York: Cambridge Univ. Press, 1999, 4–28. (Auszug)

(4) 2. Mai 2023

  • Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921), in: Sigmund Freud: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Band IX. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt (M.): Fischer, 1982, 61–134. (Auszüge)

(5) 16. Mai 2023 (Onlinetermin wegen Bahnstreik)

  • Georges Bataille: »Die psychologische Struktur des Faschismus« (1933), in: Georges Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, hg. v. Georges Bataille, München: Matthes & Seitz, 1997, 7–43.

(6) 23. Mai 2023

  • Gilles Deleuze: »Zwei Systeme von Verrückten«, in: Gilles Deleuze: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, hg. v. David Lapoujade, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, 12–17.
  • Gilles Deleuze: »Schizophrenie und Gesellschaft«, in: Gilles Deleuze: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, hg. v. David Lapoujade, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, 18–29.
  • Gilles Deleuze: »Wunsch und Lust«, in: Gilles Deleuze: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, hg. v. David Lapoujade, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, 117–128.

(7) 6. Juni 2023

  • Brian Massumi: »Everywhere you want to be. Einführung in die Angst«, in: Clemens-Carl Härle (Hg.): Karten zu ›Tausend Plateaus‹, Berlin: Merve, 1993, 66–103.

(8) 13. Juni 2023

  • Peter Rehberg: »Queer Affect Theory. Zum Verhältnis von Affekt und Trieb bei Sedgwick und Freud«, Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 9, N° 17-2, 2017, 63–71.

(9) 27. Juni 2023

  • Marie-Luise Angerer: »Affective Troubles in Medien und Kunst«, in: Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich: Diaphanes, 2007, 17–37.

(10) 4. Juli 2023

  • Eva Illouz: »Romantische Netze«, in: Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2021, 115–168.

 

Für Lektüren/Testauszüge wird ein digitaler Handapparat eingerichtet.