Die Vorstellung, dass sich Design sowohl kontinuierlich zum Besseren entwickelt als auch zu einem globalen Fortschritt beiträgt, ist weit verbreitet. Seit über hundert Jahren gilt Design als Garant für wirtschaftlichen Aufschwung, aber auch gesellschaftlichen oder sogar kulturellen Fortschritt. Der Fortschrittsbegriff, auf den dabei rekurriert wird, ist ein qualitativer und spezifisch westlicher. ,Fortgeschritten‘ oder ,fortschrittlich‘ wird – ebenso wie ,entwickelt‘– nicht nur als Zustand verstanden, sondern als eine positive Qualität. Was ,fortgeschritten‘ ist, ist auch ,entwickelt‘ und damit gut. Was dagegen ,alt‘ oder ,traditionell‘ ist, gilt als ,unterentwickelt‘ und eher minderwertig.
Aber woher kommt die Vorstellung, dass sich die Menschheit mitsamt ihrem Design in einem unaufhaltsamen Prozess der ,Entwicklung‘ und ,Verbesserung‘ befindet? In welcher politischen Situation ist die Idee entstanden, dass Design ein Werkzeug des ,Fortschritts‘ ist? Und warum sind diese Fortschritts- und Entwicklungsnarrative aus dekolonialer Perspektive problematisch?
Zur Beantwortung dieser Fragen werden wir uns in dem Seminar eingangs mit dem europäischen Fortschrittsverständnis befassen und einen Blick auf die moderne Idee werfen, dass sich die Menschheit unaufhaltsam in Richtung Vervollkommnung bewegt. Wir unternehmen einen Ausflug in die frühe kritische Theorie, in der Fortschritt nicht mehr als universelle Verbesserung aufgefasst wurde, sondern primär als Fortschritt der Mittel des Menschen, Gräueltaten zu begehen. Und wir befassen uns mit der Kritik an westlichen Fortschritts- und Entwicklungskonzepten, die in der post- und dekolonialen Theorie geübt wird und schauen, inwiefern sie Relevanz für das Design besitzt. Dafür diskutieren wir Entwicklungsstufenmodelle und ihre Anwendung auf rassifizierte Menschengruppen sowie Handwerk, Produktionsformen und Stile. Wir widmen uns aber auch kulturdarwinistischen Theorien, die behaupten, es gäbe im Design eine Art ,Evolution‘ durch ,kulturelle Selektion‘. Die Frage, was ein Design kennzeichnen könnte, das sich nicht dem Fortschritt – oder einer wie auch immer gearteten Entwicklung – verschreibt, wird abschließend Gegenstand des Seminars sein.
Wenn der Wunsch danach besteht, können wir auch populäre Texte der Designtheorie einer kritischen Relektüre unterziehen oder diskutieren, inwiefern durch Transformation- oder Social Design koloniale Entwicklungsparadigmen perpetuiert werden.
Das Seminar ist als Lektüreseminar konzipiert. Deshalb ist die Lust, sich mit theoretischen Texten zu befassen, eine Voraussetzung für die gelingende Teilnahme. Die Fähigkeit, wissenschaftliche Texte zu lesen (und sofort zu verstehen) aber ausdrücklich nicht! Das Seminar kann Teilnehmer*innen ggf. dazu dienen, wissenschaftliche Lesefähigkeiten zu entwickeln und Berührungsängste und Frustrationen beim Lesen von wissenschaftlichen Texten abzubauen.
Auf den Textkorpus werden wir uns in der ersten Stunde gemeinsam verständigen. Zur Auswahl stehen Aufsätze oder Buchkapitel u.a. von Amy Allen, Gurminder K. Bhambra, Arturo Escobar, Rahel Jaeggi, Sidi M. Omar, Judith-Frederike Popp und Aram Ziai. Vorschläge und Wünsche von Seminarteilnehmer*innen werden gern berücksichtigt – ich bitte darum, mir diese rechtzeitig vor Seminarbeginn mitzuteilen. Ein Teil der Lektüre wird voraussichtlich auf Englisch sein – die Teilnahme ist aber nach Rücksprache auch ohne Englischkenntnisse möglich, wenn gute Deutschkenntnisse vorhanden sind.
Es ist keine Vorbereitung erforderlich. Wenn jedoch der Wunsch besteht, sich auf das Thema einzustimmen, empfehle ich folgende Lektüre:
Amy Allen: Das Ende des Fortschritts. Zur Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie, Campus, Frankfurt a. M. 2019
Sidi M. Omar: “Rethinking Development from a Postcolonial Perspective”. In: Journal of Conflictology, Volume 3, Issue 1 (2012), S. 42-49.
Escobar, Arturo: “Beyond the Search for a Paradigm? Post-Development and beyond”. In: Development 43, 2000, S. 11–14.