Praxisprojekt von Alison Shea im Rahmen des Masterstudiengangs Kunstwissenschaften.
Das Kunst- und Rechercheprojekt wurde vom 1. bis 17. Juli 2022 im Rahmen des Festival OSTEN in Bitterfeld präsentiert.
Das Projekt „Grasnarbe“ ist eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einer Wiese neben einem See. Auf der Wiese stand früher ein Gefängnis, der See war früher eine Grube. Noch früher war überall dort Wald. Aus den Baumstämmen des Mitteldeutschen Waldes tropfte einst das Harz und wurde zu Bernstein. Als tausende Jahre später die Sowjetunion mit einem Mal nur noch ein Zehntel der eingeplanten Menge Bernstein an die DDR lieferte, verfasste der Norddeutsche VEB Ostseeschmuck Zeitungsanzeigen mit dem Angebot privates Bernsteinsammelgut anzukaufen. Überraschenderweise kamen die meisten Einsendungen aus Bitterfeld und bald stellte man fest, dass dort ein ungeahnt großes Bernsteinvorkommen unter den Braunkohleschichten existierte. Ungewöhnlich viele Inklusen (im Bernstein eingeschlossenen Insekten) machen diesen Bernstein besonders wertvoll. Die Bitterfelder Bernsteingewinnung in der Kohlegrube Goitzsche begann, wurde aber für die Aufrechterhaltung der Ostseeillusion geheim gehalten. Zu selben Zeit waren in dem benachbarten „Haftarbeitslager“ zahlreiche Häftlinge untergebracht, die auch im Tagebau eingesetzt wurden. Ein weiterer Teil der Gefängnisinsassen musste im Bitterfelder Chemiekombinat arbeiten. Als verpflichtete Industriearbeiter ermöglichte der Einsatz ihrer Arbeitskraft unter teilweise katastrophalen und lebensbedrohlichen Bedingungen ein inländisches Produktionspensum, das ohne sie nicht hätte eingehalten werden können.
Die vierzigminütige Theaterperformance „Von Insassen und Insekten“ erzählt diese abstrakte Geschichte von Einschluss und Ausschluss, von Haft und Arbeit, von nicht mehr Sichtbarem und nie sichtbar Gewesenem. Beim Festival OSTEN wurde sie im Bitterfelder Kulturpalast von Gerda Knoche, Liesbeth Nennoff, Julia Sibeky, Alison Shea und dem Publikum aufgeführt. Für zwei Wochen im Juli stand an dem ehemaligen Standort des Gefängnisses, auf der heutigen Wiese, eine Wand aus Stahlstangen, die in Anlehnung an eine Fassade der inzwischen abgerissenen Gefängnisbauten konzipiert wurde. Die Skulptur „Grasnarbe“ war eine Arbeit von Friedrich Hartung und Alison Shea. An dem zweiten Festivalwochenende fanden Vortrags- und Gesprächsformate mit Holger Rossmann und Justus Vesting statt. Justus Vesting ist Historiker und Theologe, er forscht unter anderem zur Geschichte von Strafgefangenen und Bausoldaten im Chemiedreieck der DDR. Holger Rossmann war zwischen 1975 und 1976 für 14 Monate als politischer Gefangener in Bitterfeld inhaftiert. Ein einzigartiges Zeugnis sind Filmaufnahmen, die er nach der Wende bei seiner Rückkehr nach Bitterfeld in den bereits leer stehenden Gefängnistrakten drehte, noch bevor diese abgerissen wurden. Ein fast fünfzehnminütiger, von Holger Bück bearbeiteter Zusammenschnitt dreier solcher Begehungen ist der Projektfilm von „Grasnarbe“. Während des Festival Osten war das Video geloopt auf einem alten Fernsehbildschirm im Schaufenster des Burg-Projektraumes in der Bitterfelder Innenstadt zu sehen.