"Aussicht auf Austausch"
Diplom / Klasse Prof. Stella Geppert / Studiengang Kunstpädagogik / Sommersemester 2016 / Präsentation am 06.07.2016, Eichendorffstraße 37, Halle (Saale)
Seit vier Jahren blicke ich von meinem Fenster aus auf ein verlassenes, sanierungsbedürftiges Haus. Sein marodes Dach hatte ich irgendwann einmal auf einem Schnappschuss festgehalten. Darauf schmückte eine kahle Fernsehantenne, samt ein paar gefiederter Gäste, vor einem blauen Himmel meinen Ausblick. Eben diese Fotografie, die lange auf meinem Fensterbrett stand, gab den Auslöser für meine Diplomarbeit.
Mit dem öffentlichen Aufruf Mit Ausblick begab ich mich auf die Suche nach anderen Fensteraussichten. Nach fremden visuellen und mentalen Blickwinkeln der Bewohner dieser Stadt. Indem ich zunächst meine eigenen Empfindungen preisgab, wollte ich eine persönliche Anregung zum Austausch formulieren. So fand man auf Postkarten, die ich an öffentlichen Orten verteilte, das Foto meiner Aussicht und einen kurzen Text meiner Gedanken dazu sowie die Einladung zur Beteiligung. Ich bat darum, mir ein Foto des jeweiligen Ausblicks zuzuschicken, sowie ein paar Sätze zu dem, was dieser im Betrachter auslöst.
Versteht man das Fenster als die Schnittstelle zwischen unserem privaten Innenraum und der öffentlichen Außenwelt, sind wir alle dadurch miteinander verbunden, dass wir aus diesen Öffnungen auf dieselbe Welt sehen. Und doch ist jeder Ausschnitt, den diese Rahmen zeigen, sowohl von innen wie von außen einzigartig. Täglich schauen wir aus den Öffnungen in unseren Wänden oder in andere hinein, ohne dass über diese Eindrücke ein Austausch zustande kommt. Doch in einer Großstadt ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass jemand im selben Moment wie ich aus seinem Fenster blickt. Mit dem Aufruf bin ich der Frage nachgegangen, was ein Anderer dabei sehen kann und woran er dabei denken mag.
In meiner Arbeitsweise versuche ich, mein Gegenüber in den Gestaltungsprozess einer Arbeit mit einzubeziehen. Die Kontaktaufnahme mit Menschen meiner Umwelt steht im Zentrum meiner künstlerischen Suche. Ich spiele mit den verschiedenen Möglichkeiten der Annäherung, mich interessiert, wie andere Menschen sind und leben. Mich reizen kurzweilige Schnittstellen und momenthafte Synchronisierungen zweier Lebenswelten, die in unserem normalen Alltag vielleicht nie in Verbindung kämen.
Die Beiträge des Aufrufs sind oft von höchst privater und authentischer Natur und machen deutlich, dass das Fenster ein Ort ist, an dem wir reflektieren, fantasieren, uns erinnern, oder am Treiben der Außenwelt teilhaben. Trotz der Diversität unserer Aussichten steigen in uns dabei ähnliche Gefühle und Gedanken auf. Ich wollte ausnahmslos allen Fotografien und allen Texten einen Platz in dieser Arbeit geben. Um zu zeigen, was den Texten im Kern gemein ist, habe ich jeden einzelnen Satz eines schriftlichen Beitrags seiner Bedeutung nach
mit den Textfragmenten anderer Autoren_innen verflochten. In der Verkettung der Auszüge verschmelzen die Autorschaften der Sammlung, ohne dass die einzelnen Passagen dabei an Charakter verlieren. Ich entschied mich, den Textbeiträgen eine akustische Dimension zu verleihen, indem ich eine weibliche Stimme die verschiedenen Fragmente lesen ließ. Da ich die Arbeit den Bewohnern der Stadt und zugleich allen Mitwirkenden zugänglich machen wollte, entschied ich mich für eine Ausstrahlung im Radio. Alle Teilnehmer waren zur Präsentation eingeladen.
Um die Arbeit an ihren Ausgangspunkt zurückzuführen, präsentierte ich mein Diplom im Haus gegenüber meines Fensters. Es befand sich mitten im Umbau und war der Kern meines täglichen Ausblicks. Über Radios wurde die Arbeit nicht nur in den Ausstellungsräumen hörbar, sondern zeitgleich in ganz Halle. Auf Sitzgelegenheiten fanden Besucher je eine Fotografie der gesammelten Fensteraussichten, die während der Ausstrahlung betrachtet werden konnten. Zuletzt waren die Gäste dazu eingeladen, alle Fotografien an einer separaten Wand wieder zu versammeln.
Das Radio schuf in meinen Augen eine Verbindung zwischen den Menschen, die an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Situationen, dasselbe hörten. So zum Beispiel von vielen neugierigen und herzlichen Beschreibungen über das Leben der Nachbarn. Für mich deutet das darauf hin, dass der Wunsch nach Teilhabe am Geschehen unserer sozialen Umwelt in uns allen steckt und nicht vor dem Fensterglas Halt macht.